Ausgabe März
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Gemeinde im Konflikt (Teil 2) 
Zum Teil 1


Ein Praxisbericht von Oliver Schippers 

Ein Wochenende nur Zukunft? Und dies, um im Miteinander konfliktfähiger zu werden?

Ich kann die „normale“ Reaktion auf Konflikte und Probleme in der Gemeinde sehr gut nachvollziehen. Zuerst müssen wir die Probleme benennen, dann sollten wir Lösungen erarbeiten und die Lösungen umsetzen. Wenn wir uns am Ende des Prozesses versöhnt haben, kann Gott wieder wirken und es wird uns als Gemeinde gut gehen.

Aus meiner Sicht ist dies der sichere Weg die Abwärtsspirale, in der sich die Gemeinde durch ihre multiplen Konflikte befindet, noch zu verstärken. Die Bereitschaft der Gemeindeglieder, sich für die Gemeinde zu investieren, sinkt weiter. Gegenseitige Schuldzuweisungen nehmen zu und die Beziehungen werden mit Sicherheit nicht liebevoller.

Daher plante ich mit der Gemeinde eine Intervention der anderen Art: Ein Wochenende (fast) nur Zukunft, nicht in Problemen verheddern und reden, reden, reden. Gibt es eine gemeinsame Perspektive, für die wir einstehen und alle mittragen, so dass wir dann auch die Kraft aufbringen, anstehende Probleme zu lösen? Gibt uns die Sicht auf eine gemeinsame Zukunft genug Schwung, um im Glauben gemeinsam die Konflikte zu lösen und eine neue Kultur des Miteinanders einzuüben.

„Sie werden platziert!“

Freitagabend, im Gemeindesaal stehen Tischgruppen, auf den Plätzen liegen Teilnehmermappen mit Namen. Wie zu einer Hochzeit, so erklären wir als Moderationsteam, bekommt jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer ihren/seinen Platz zugewiesen.

Begrüßung, Einführung in Ablauf und Prinzipien des Wochenendes und dann folgt die erste spannende Phase. An jedem Tisch wird über ein anderes Thema, die Gemeinde betreffend, gesprochen. Wie wurden die Gottesdienste erlebt? Was motiviert Menschen zur Mitarbeit? Was würde man Außenstehenden über die Gemeinde erzählen? Wie unterstützt mich die Gemeinde in meiner Berufung? Jede der 9 Tischgruppen spricht über ein anderes Thema. An jedem Tisch sitzen Gemeindeglieder per Losverfahren zusammengesetzt. Nach 25 Minuten gibt es einen Tischwechsel. Eine neu zusammengesetzte Gruppe bearbeiten das Tisch-Thema weiter. Wieder 25 Minuten, erneuter Wechsel.

Durch die Mix-Sitzordnung sprechen Menschen miteinander, die sich im Gemeindealltag wenig begegnen, vielleicht auch aus dem Weg gehen; generations- und gruppenübergreifend. Die Tisch-Themen sind so formuliert, dass sich jeder dazu äußern kann, egal wie lange er schon die Gemeinde erlebt, alt oder jung ist.

Wesentliches schreiben die Gruppen jeweils auf die Papiertischdecke. Andere Meinungen dürfen durch leserliches Durchstreichen markiert werden.

Nach fast zwei Stunden wurden wichtige Beobachtungen und Erfahrungen aus den Gruppen im Plenum „eingesammelt“. Was war neu? Was hat überrascht? Aber auch, was hat die eigene Meinung bestätigt?

In den Statements wurden unterschiedliche Meinungen deutlich, als es z.B. um das Pflichtbewusstsein der Mitarbeiter ging. Ist die Pflicht tun eine gute Motivation? Wollen wir wirklich Vielfalt im Gottesdienst wertschätzen und unterschiedliche Formen, die Beziehung zu Gott zu gestalten, fördern? Muss die Gemeinde mich in meiner Berufung unterstützen? Habe ich überhaupt eine Berufung?

Manch „Heißes Eisen“ wurde auch durch Nichtansprechen kommuniziert: Die Gottesdienste sind dann besonders inspirierend, wenn Gäste diesen gestalten. Lebensnahe Predigten halten andere Prediger. In noch keiner Gemeinde haben ich so wenig über den Dienst des Pastors durch die Gruppe erfahren.

Oder anders ausgedrückt, noch nie wurde durch das, was nicht gesagt wurde so deutlich, dass viele mit dem Dienst des Pastors unzufrieden sind. Aber auch sonst gab es wenig Wertschätzung der Arbeit derer, die sich für das Leben der Gemeinde engagieren. Viel mehr wurde sehr deutlich angesprochen, dass man mit dem Umgang untereinander, besonders mit unterschiedlichen Meinungen in der Vergangenheit, nicht zufrieden ist. Dabei war sehr interessant, dass nach einer Phase der konfliktreichen Spaltung die Gemeindeglieder zusammenrückten und sich positiv und motiviert einbrachten.

Viele lose Enden

Als Moderatoren betonten wir wiederholt, dass es wichtig ist, nicht vorschnell nach Lösungen zu suchen, sondern die Spannung(en) zunächst einmal aushalten soll. Unterschiedliche Meinungen müssen nicht sofort zusammengeführt werden. Es geht darum, sich wahrzunehmen, nicht Recht zu haben. So haben wir den Abend beendet: Viele lose Enden – mal schauen, wie wir diese am Folgetag zusammenbringen.

Am Samstag saßen zunächst Gemeindeglieder zusammen, die einen Dienst, eine Gruppe in der Gemeinde oder auch die gleiche Generation verkörpern. Was ist gut in unserem Dienst der Gemeinde? Was bedauern wir, weil es gerade nicht wie erwartet läuft? In kurzen Berichten wurde präsentiert, was die Tischgruppen erarbeiteten.Die Gruppen schätzen ihr Wirken in der Gemeinde selbst sehr positiv ein. Es waren eher die ganze Gemeinde betreffenden Dinge, in denen man sich Veränderung wünschte, wie das Miteinandern von Jung und Alt, der Umgang mit neuen Ideen und eine fehlende Feedbackkultur. Aber auch geistliche Leitung und Lehre, Verbindlichkeit in der Mitarbeit und mangelndes Vertrauen wurden als Probleme angeführt.

Diese benannten Stärken und Schwächen wie auch die Themen des Freitagabends werden nicht geclustert und priorisiert, um dann nach Lösungen zu suchen. Sie sind im Bewusstsein der Teilnehmer, die es gerne in die nächste Aufgabe hineintragen können. In der Moderation haben wir darauf hingewiesen, wohl wissend, dass diese Arbeitsweise ungewohnt ist.

Den Blick nach vorn richten

Mittagspause, Zeit für manche abzuschalten, für andere Gespräche zu suchen und Themen vom Vormittag weiter zu diskutieren. In den Nachmittag starten wir erneut in einer Mix-Sitzordnung. Als Moderatoren begrüßten wir die Teilnehmer im Jahr 2023. Wir baten die Teilnehmer, zunächst hörend zu beten: Was zeigt Gott ihnen auf, wenn es um die Zukunft ihrer Gemeinde geht? Wofür haben sie Glauben, dass es Gott durch ihre Gemeinde mit all ihren Stärken und Schwächen tut? Wieder galt es, FlipCharts zu beschreiben, sich zu einigen um am Ende der Arbeitszeit einen für die Gruppe wesentlichen Punkt auf kreative Weise darzustellen. Alle sollten schon einmal fühlen und erleben, wie die Gemeinde im Jahr 2023 sein wird.

Zunächst geht es um das Erleben von Gemeinsamkeiten. Da jede Tischgruppe sich aus Vertretern der Gemeindebereiche zusammensetzt, wird ein für die Gemeinde allgemeingültiges gemeinsames „Bild von der Zukunft“ formuliert. Dies ist nicht mit einem Leitbild oder einer formulierten Vision zu verwechseln. Viel mehr ist es ein inneres Bild, dass viele mittragen, etwas, wofür gemeinsam das Herz schlägt und so die Energie freigesetzt wird, gemeinsam die anstehenden Probleme und Konflikte zu lösen.

Wir erlebten einen Nachmittag, der Hoffnung auf ein neues Miteinander in Gemeinde bestärkte. In kurzen Inszenierungen und Bildern wurde eine Gemeinde skizziert, in der das Miteinander der Generationen gelebt wird, Vertrauen und Freundschaft gefördert werden. Viele Präsentationen bringen zum Ausdruck, dass eine offene, angstfreie Atmosphäre entstanden ist; eine Gemeinde, deren Miteinander geistliches Leben fördert.

Welche Themen, Ideen und Projekte, die wir in den Präsentationen „erlebten“ sind es wert, aufgegriffen zu werden? Diese sollten die Gruppen zum Abschluss des Tages noch aufschreiben, so dass wir sie als „Wand der Ideen“ am nächsten Morgen präsentieren können.

Gemeinsamkeiten werden zu konkreten Schritten

Am Sonntagmorgen erläutern wir kurz die „Wand der Ideen“, lassen die letzten Tage Revue passieren und starten dann mit einer Aufgabe für jeden Teilnehmer: Was ist deine persönliche Herausforderung mit Blick auf die gesammelten Gemeinsamkeiten, Themen und Projekte?

Nach einer Zeit der persönlichen Reflexion, gab man sich in den Tischgruppen Anteil, ohne die Aussagen der Einzelnen zu bewerten. Einfach nur zuhören, was den Bruder die Schwester im Blick auf die Zukunft der Gemeinde bewegt, um sie/ihn dann zu segnen.

Diese Stunde änderte das Klima in der Gruppe. In dieser Phase sind viele Teilnehmer bereits gedanklich bei der Umsetzung, würden gerne konkrete Schritte planen. Andere haben Bedenken, fühlen sich überfordert und tun sich schwer, mit der Fülle der Informationen umzugehen.

Daher geht es in dieser Runde nicht gleich um die Gemeinde als Ganzes. Zunächst ist Zeit, persönlich zu reflektieren, aufeinander zu hören und sich den Segen Gottes zusprechen zu lassen.

An dieser Stelle möchte ich aber nicht verschweigen, dass das nicht bewertende Zuhören  einigen schwer gefallen ist und an so manchem Tisch mehr über die Herausforderungen / Bedenken gesprochen wurde, als mir lieb war.

Die letzte Runde des Wochenendes galt der Planung. Welche Schritte sind zu gehen, um der entworfenen Vision näher zu komme?

Und wieder galt es erst Stille still zu werden und auf Gott zu hören. Dann eröffnete sich den Teilnehmern die Chance, ein Thema von der „Wand der Ideen“ zu benennen, dass aus ihrer Sicht für die Gemeinde wesentlich ist. Diese Themen werden jeweils auf ein FlipChart im Raum geschrieben.

„Was jetzt passiert ist das einzig Richtige was passieren kann“. So eröffnete ich die nächste Runde und bat alle Teilnehmer, sich einem Thema zuzuordnen, an dem sie/er sich einbringen möchten. Zunächst entschieden sich die Teilnehmer nur für diese Arbeitszeit, an dem Thema mitzuarbeiten. Ob Initiativen in die weitere Umsetzung kommen, hängt davon ab, inwieweit sich Gemeindeglieder über diese Zeit hinaus für das Thema engagieren. Es entstanden Initiativgruppen zu acht Themen.

Zwei Wochen nach dem Perspektivwochenende traf sich das Projektteam mit der Gemeindeleitung. Den meisten Initiativen wurde ein Mandat zu Weiterarbeit gegeben.

Aktivität oder Aktivismus? Immer wieder haben Teilnehmer Angst, dass eine Gemeinde auf diesem Weg in Aktivismus verfällt. Neue Ideen könnten in Angriff genommen werden, ohne zu fragen, ob dies der Gemeindeentwicklung wirklich dient.

Ich teile diese Bedenken. Daher schlage ich innerhalb des Wochenendes immer wieder vor, aufeinander und auf Gott zu hören, nicht vorschnell Wünsche zu äußern und nach Lösungen zu suchen. Aber ist es Aktivismus, wenn Gemeindeglieder Gemeinde als den Ort gestalten, an dem sie und andere ihre Begabungen einbringen können? Ist der Aktivismus-Vorwurf berechtigt, wenn sich Christen in ihrer Berufung engagieren und ihrMiteinander kreativ gestalten?

Was wirklich von diesem konkreten Perspektivwochenende in dieser Gemeinde Bestand hat und inwieweit eine nachhaltige Veränderung stattfindet, wird erst im weiteren Prozess deutlich werden. Dieser ist geplant. Die Konflikte und Probleme sind nach diesem Wochenende nicht beseitigt. Das gemeinsame Reden und Arbeiten nach klaren Prinzipien und Regeln hat aus meiner Sicht eine Grundlage geschaffen, zu einem neuen Miteinander zu finden. Die Haltung zueinander / zu bestimmten Themen wurde aufgebrochen. Die Basis, Konflikte konstruktiv zu lösen, ist gelegt. Ob es wirklich gelingt?

Der Prozess ist vollkommen offen. In einigen Monaten wird es ein Zwischentreffen geben und ich werde einen dritten Teil „Gemeinde im Konflikt“ für unseren Newsletter schreiben.



Spannungen konstruktiv leben!


 



Herausgeber:
Verein für Natürliche Gemeindeentwicklung e.V. 

Geschäftsstelle:
Bärner  Str. 12, 35394 Gießen
E-Mail: buero@nge-verein.de

ViSdPR: Pfn. Birgit  Dierks (Vorstand)

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